Inspirierende Theorien, neue Einsichten und diverse Perspektiven – das Tagesseminar über politische Theorien zum Mensch-Tier-Verhältnis hatte verdammt viel zu bieten. Hier der Versuch eines Rückblicks.

Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der verschiedenen Profile innerhalb der Tierbewegung, werden auch die unterschiedlichen Theorien offensichtlicher. So dreht sich zum Beispiel die klassische Tierrechtstheorie vor allem um die Frage des „richtigen Denkens“, „der moralischen Haltung“ und der Rechtsnormen. In der Tierbefreiungsbewegung finden jedoch nicht nur die Mittel der Ethik Anwendung. Vielmehr wird der Schritt von der Ethik zur Gesellschaftstheorie und politischen Theorie unternommen. Die Gesamtgesellschaft wird in den Blick genommen und aus der Moral heraus politische Optionen aufgezeigt. Seit einiger Zeit wird daher der Umgang mit Tieren auch als Thema der politischen Theorie begriffen. Allerdings unterscheiden sich die dabei vertretenen Positionen teils sehr stark.

Worin diese Unterschiede bestehen und welche praktischen Konsequenzen daraus folgen, war Thema unseres Tagesseminars am 1. September mit Friederike Schmitz. Um es vorwegzunehmen: Es war großartig, ein intensiver und leider viel zu kurzer Tag. Und wir hätten wohl kaum jemand besseres als Friederike finden können! Eine Zusammenfassung fällt schwer, da so viele unterschiedliche und wichtige Punkte angesprochen und diskutiert wurden.
Wir versuchen es trotzdem 🙂

Vom Tierschutz zum Anarchismus

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde wurden die Unterschiede zwischen Tierschutz, Tierrecht und Tierbefreiung definiert.

1. Der klassische, institutionalisierte Tierschutz beschränkt sich darauf, bestimmte Formen der Gewalt an Tieren zu problematisieren. Die Legitimität der Herrschaft vom Menschen über das Tier wird vom Tierschutz nicht per se in Frage gestellt. Forderungen sind zum Beispiel größere Käfige oder kürzere Transportzeiten von Tieren zum Schlachthof – also lediglich eine Modifizierung der Ausbeutung.

2. Die Grundidee des Tierrechtsgedankens basiert auf der Annahme und impliziten Forderung, dass Tiere und Menschen fundamentale Rechte haben und daher als moralisch gleichwertig betrachtet werden müssen. Grundlage für Tierrechte sind ethische Überlegungen aus denen juristische Forderungen resultieren (z.B. Verbandsklagerecht). [1]

Während die Tierrechtsbewegung im Rahmen des bürgerlichen Staats Tierrechte einfordert, ist das Ziel der Tierbefreiungsbewegung eine befreite Gesellschaft zu schaffen in der die Ausbeutungsverhältnisse gegenüber Tieren abgeschafft sind.

Darin ist auch der Grundlegende Unterschied zwischen der Tierrechts – und der Tierbefreiungsbewegung zu sehen:

  • Die Tierrechtsbewegung fordert innerhalb des bestehenden Systems moralische und juristische Grundrechte für Tiere
  • während die Tierbefreiungsbewegung in unserem hierarchischen Gesellschaftssystem die Basis für die Unterdrückung der Tiere sieht und dieses überwinden will

3. Der Begriff Tierbefreiung verweist also auf die soziale Stellung von Tieren, in der sie im übertragenen Sinn gefangen gehalten werden. Das heißt, es sind nicht nur die Käfige, sondern auch die Vorstellungen der Minderwertigkeit und die Ausbeutungsverhältnisse, aus denen sie befreit werden sollen.

Zoopolis: Bürgerrechte für Schweine?

Nach einer ersten Pause kamen wir dann zum Schwerpunkt Zoopolis und der Frage nach Bürgerrechten für Tiere. [2] Die Autor*innen Sue Donaldson und Will Kymlicka argumentieren in ihrem Buch, domestizierten Tieren unverletzliche Grundrechte und einen gruppenspezifischen politischen Status zuzusprechen. Sie unterscheiden hierbei drei Gruppen von Tieren:

  • volle Staatsbürgerschaft für domestizierte Tiere
  • Souveränität für Gemeinschaften von Wildtieren
  • ein Einwohnerstatus für Tiere im Schwellenbereich, also Tiere, die zwar nicht domestiziert sind, aber in unmittelbarer Nachbarschaft zu uns leben wie zum Beispiel Ratten, Mäuse, Eichhörnchen, Krähen, Waschbären, Tauben und unzählige andere Arten

In einer Workshop-Phase wurde in kleinen Gruppen der Umgang mit domestizierten Tieren thematisiert. Anschließend skizzierte Friedericke Schmitz mit einem kurzen Inputvortrag die Überlegungen von Donaldson und Kymlicka. Hierbei verwies sie bereits auf Schwächen bzw. kontroverse Positionen und warf mögliche Fragestellungen auf. In einer weiteren Gruppenphase wurde sich anschließend u.a. mit Fragen wie

  • den Gebrauch von tierlichen Produkten
  • die Ernährung von domestizierten Tieren
  • das Zusammenleben mit Tieren
  • sollten sog. Nutztiere aussterben?
  • wie sich Bewegungsfreiheit für Tiere im urbanen Raum gewährleisten lässt
  • Rechte und Pflichten des Menschen gegenüber sog. Wildtieren oder
  • die Finanzierung der Bürgerrechte (Krankenversicherung, Städteplanung, …)

intensiv auseinandergesetzt und ausgetauscht.

Am frühen Nachmittag wurden verschiedene weitere politische Theorien kurz vorgestellt, die wir hier nur skizzieren können:

  • Marxistische Analyse: In Texten der klassischen Tierethik wird die Theorie vertreten, dass wir Tiere ausbeuten, weil wir alle Speziesist*innen sind. Dem widersprechen einige Sozialwissenschaftler*innen. Sie vertreten die Ansicht, dass die sozialen Verhältnisse die Ursache unsere Moralvorstellungen sind: Wir sind Speziesist*innen, weil wir Tiere ausbeuten.
  • Für Birgit Mütherich ist Speziesismus das Ergebnis einer dualistischen Konstruktion. Tiere werden als minderwertig konstruiert, d.h. ihm werden Eigenschaften wie unvernünftig, affekt- und triebgesteuert zugewiesen, während der Mensch als vernunftbegabtes, rationales und kalkulierendes Subjekt konstruiert wird. Über diesen Mensch-Tier-Dualismus und das Konstrukt ‚Tier‘ werden die Herrschaftsmechanismen aufrechterhalten – ähnlich wie bei der Konstruktion von Frauen und nicht weißen Menschen als minderwertige Wesen. Ihre Argumentation ist vergleichbar mit der von herrschaftskritischen Feminist*innen oder Antirassist*innen, die in ähnlicher Form sexistische oder rassistische Praxis begründen.
  • Melanie Joy prägte den Begriff des Karnismus. Darunter versteht sie ein unsichtbares gesellschaftliches System von Überzeugungen, das Tiere in die Kategorien „essbar“ und „nicht essbar“ sortiert. Charakterisierend und notwendig ist es, den Konsum von Fleisch, Eiern und Milch als normal, natürlich und notwendig aufzufassen.
  • Carol J. Adams ist eine US-amerikanische Autorin und Aktivistin mit den Themenschwerpunkten Feminismus und Tierrechte/Tierethik. Ihre zentrale These ist dabei, dass Tiere von den gegenwärtigen westlichen Kulturen zu „abwesenden Referenten“ gemacht werden. Damit meint sie, dass Menschen zwar dauernd mit dem toten Körper in Form von Fleisch in Berührung kommen, die lebenden tierlichen Subjekte in dieser Interaktion abwesend gemacht worden seien.
  • David Nibert war einer der Ersten, der die Mensch-Tier-Beziehung aus soziologischer Sicht untersuchte. Seine Theorie besagt, das drei interagierende Faktoren das System der Tierausbeutung ermöglichen, nämlich: die Herrschaft der Menschen über Tiere in Ökonomie, Politik und Kultur.

Im Anschluss diskutierten wir ausführliche die anarchistische Theorie, ihre Grundideen, praktische Konsequenzen und mögliche Auswirkungen auf das Mensch-Tier-Verhältnis. Auch hier schlugen wir einen großen Bogen – von Kropotkins „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“, in dem er herkömmliche sozialdarwinistische Auffassungen kritisiert bis zum Kollektivismus.

Werde vegan!?

Für die allermeisten Aktivist*innen der Tierrechtsbewegung ist eine vegane Lebensweise immer noch ein maßgeblicher Hebel der Veränderung. Familie, Freunde, Arbeitskolleg*innen usw. sollen Tiere respektieren und vegan werden. Ein tragfähiges politisch-ökonomisches Projekt, eine Strategie oder zumindest eine Debatte darüber, wie man vom Ist-Zustand zur angestrebten Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung von Mensch und Tier kommt, sucht man jedoch leider oftmals vergebens. Wir freuen uns, dass wir mit diesem Seminar diesen blinden Fleck wenigstens für einen Tag etwas entgegensetzen konnten.

Aus unserer Sicht scheitert Ethik und Moralphilosophie dort, wo die reale ökonomische Praxis der Gesellschaft beginnt. Das Ziel muss daher eine Gesellschaft sein, in der Ethik nicht nur denkbar, sondern auch umsetzbar ist. Es ist die kapitalistische Verwertungslogik und die ihr entsprechend (neo-)liberale Ideologie, in deren Zuge Menschen und Tiere zu Waren degradiert werden. Das bedeutet: Ohne Kritik des Kapitalismus ist keine Kritik der Mensch-Tier-Verhältnisses möglich. Und wer vom Kapitalismus nicht reden möchte, der sollte vom Veganismus schweigen.

Anderen Gruppen der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung möchten wir das Seminar mit Friederike unbedingt ans Herz legen. Aufgrund der Abwechselung von kurzen Inputvorträgen, Workshophasen und gemeinsamer Diskussion war der Tag kurzweilig, spannend und abwechslungsreich.

Für ein derart umfangreiches Themengebiet reichen jedoch auch sieben Stunden nicht. Alle der angesprochenen Theorien hätten noch weiter vertieft und weiter diskutiert werden können. So kam bei der Abschlussrunde auch gleich die Frage nach einer Fortsetzung auf. Das Menschen aus München zum Seminar kommen wollten, zeigt das große Interesse an dem Thema – was uns natürlich wieder besonders freut!

Vielen Dank nochmal an Friedericke Schmitz. Bis zum nächsten Mal 😉


[1] Tierrechte:

Aus unserer Sicht sind sowohl die ethische als auch die juristische Argumentation zumindest problematisch:

  • Mit juristischen Forderungen wird Bezug auf rechtsstaatliche Autoritäten genommen. Es sollen genau jene Instanzen mit der Durchsetzung von Tierrechten beauftragt werden, deren Aufgabe es derzeit ist, Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen in dieser Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Wenn das gegenwärtige Mensch-Tier-Verhältnis durch eben jene Strukturen aufrecht erhalten wird, sind sie jedoch nicht Teil der Lösung sondern Teil des Problems.
  • Bei der ethischen Argumentation wird aus unserer Sicht nicht ausreichend das gesamtgesellschaftliches Verhältnis betrachtet. Tierausbeutung wird auf „Ignoranz“ und „problematische Einstellungen“ der Menschen zurückgeführt. Es führen jedoch nicht „Boshaftigkeit“ und „mangelndes Wissen“ einzelner Menschen zu einem System der Tierausbeutung. Vielmehr sind es gesellschaftlichen Denkformen, Strukturen und Herrschaftsverhältnisse die dazu führen das sowohl Tiere als auch Menschen unterdrückt, ausgebeutet und ermordet werden.

[2] Zoopolis:

  • Die Grundzüge von Zoopolis fasst Sue Donaldson in einem Beitrag auf bpb.de zusammen:
    http://www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/bioethik/265542/standpunkt-zoopolis-grundzuege-einer-theorie-der-tierrechte

Literaturhinweise:

  • Tierethik – Friederike Schmitz compassion media, 2017)Die Einführung schildert die Philosophin Friederike Schmitz die jüngste Entwicklung der Debatte und erklärt die Argumente zu den wichtigsten praktischen Fragen. Viele der Inhalte des Workshops werden in „Tierethik“ angesprochen.
    https://www.tierbefreiershop.de/Tierethik-Friederike-Schmitz

Die Bücher „Tierethik“ von Friederike Schmitz, „Das Schlachten beenden“ und „Antispeziesismus“ gibt es auch an unseren Infotischen.

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