Nachdem wir im November über den Essay „Animal Resistors: On the Right of Resistance and Human Duties of Non-Return and Abolition“ von Michael Allen und Erica von Essen gesprochen wurde, sollte diesmal anhand des Buches „Schwein und Zeit“ von Fahim Amir die Thematik weiter vertieft werden.

„Bei Tieren wird die Linke rechts“ schreibt Fahim Amir und meint damit in erster Linie das von ihm als „sozialchauvinistisch“ empfundene Mitleid, welches Menschen Tiere innerhalb der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung entgegenbringen und was meist Motivation für ihren Aktivismus darstellt. Diesem paternalistischen Mitleid möchte Amir das Prinzip der Solidarität entgegenstellen. Menschen sollen Tiere auf Augenhöhe als Kampfgenoss*innen bei der Überwindung von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen neu denken. Gleichsam wendet sich Amir gegen „Murxist*innen“ (sic!), welche in der vollständigen Naturausbeutung die Grundlage für einen Kommunismus sehen sowie gegen Ultrahumanist*innen, welche die Frage nach Befreiung der Tiere erst angehen wollen, wenn alle die Menschheit bezogenen Fragen restlos geklärt sind.

Fahim Amir ist in Wien aufgewachsen, hat afghanische Eltern und studierte in Wien, Berlin und New York. Aktuell lebt er (wieder) in Wien und betätigt sich als freischaffender Künstler und Philosoph und doziert an verschiedenen Universitäten. Er ist Teil der Performancegruppe „Dolce und Afghaner“, die sich gerne auch einmal mit österreichischen Rechtspopulist*innen anlegt.

Für sein 2018 erschienenes Buch „Schwein und Zeit“ erhielt er noch im selben Jahr den mit 10.000 € dotierten Karl-Marx-Preis in der Kategorie Ökosozialismus, welcher von dem österreichischen Verein transform!at anlässlich des 200. Geburtstags von Karl Marx verliehen wurde.

„Schwein und Zeit“ gliedert sich in sieben Kapitel, in denen sich Amir jeweils eines bestimmten Themenkomplexes annimmt. Im Inhaltsverzeichnis fallen schnell die vielen Paragramme auf, die er in den Überschriften unterbringt. Dies beginnt schon mit dem Buchtitel – eine klare Anspielung an „Sein und Zeit“, das große, 1927 erschienene, philosophische Werk Martin Heideggers. Weitere Beispiele dafür sind „Gorillas am Hebel“ oder auch „Kommunismus mit nichtmenschlichem Antlitz“. Diese Wortspiele tragen schon zu einem gewissen Teil zum Lesevergnügen bei.

Inhaltlich schildert uns Amir in seinem ersten Kapitel zunächst sein Anliegen (s.o.), um im zweiten Kapitel dann voll in die Materie der Widerständigkeit von Tieren einzusteigen: am Beispiel der Industrialisierungsprozesse der beiden großen US-amerikanischen Fleisch- und Schlachtmetropolen (zunächst Cincinnati, später Chicago) wird verdeutlicht, dass sich das Schwein seiner mechanisierten Tötung und Verarbeitung widersetzt hat und schließlich durch die Aufteilung der (noch immer notwendigen!) menschlichen Arbeitsschritte maßgeblich zur Entwicklung des industriellen Fließbands beigetragen hat. Henry Ford besuchte einst einen Schlachtbetrieb in Chicago, nahm einige Modifikationen vor und setzte das Fließband schließlich erfolgreich in seinen Werken ein. Diese körperliche Widerständigkeit des Schweins setzt Amir in direkte Verbindung mit dem operaistischen Ansatz: der Operaismus, eine neomarxistische Strömung, welche sich in den 1960er Jahren im industriell geprägten Norditalien entwickelte, stellt – anders als konkurrierende marxistische Ansätze – nicht das Kapital als treibenden Motor ökonomischer Veränderung in den Mittelpunkt, sondern die Arbeitskraft. Sie ist nach operaistischer Sichtweise entscheidend für die Entwicklung der Produktionsverhältnisse. Analoges sieht Amir in der Körperlichkeit des Schweins.

Nachdem sich der Autor im dritten Kapitel dem Thema der Schweinischen Multitude, welche sich frühen Gentrifizierungsprozessen im New York des frühen 19. Jahrhunderts widersetzte und der Verbindung zur Französischen Revolution sowie etwa gleichzeitig stattfindenden Vorgängen in London gewidmet hat, beschreibt er im vierten Kapitel die Situation der Stadttauben und den Wandel, den die Bedeutung von Tauben für die Ökonomie und die Sichtweise auf Tauben im Laufe der Zeit erfahren haben. Daran schließt sich eine Beschreibung der Bemühungen kolonialistischer Staaten bei der Moskito- und Malariabekämpfung an. Sowohl das vierte als auch das fünfte Kapitel handeln nicht von tierlicher Widerständigkeit im engeren Sinne. Vielmehr beschreibt Amir hier die Wirkungsmächtigkeit tierlicher Präsenz in ihrem jeweiligen historischen Kontext.

Das sechste Kapitel dient dazu, unsere romantischen und verklärenden Vorstellungen von Natur zu hinterfragen. Amir tut dies unter anderem, indem er Beispiele dafür nennt, wie Tiere aus katastrophalen Umweltproblemen mitunter auch ihre Vorteile ziehen konnten.

Schlussendlich widmet er sich der Frage nach korrektem Konsum und inwieweit dieser überhaupt möglich ist, sowie die Auswirkungen von Konsum. Dabei wirft er einen interessanten Gedanken auf, was veganer Konsum überhaupt bringen kann, angesichts der Tatsache, dass die gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen veganen Konsums verschwindend gering bleiben; etwa, weil die kapitalistische Wirtschaft auf sinkenden Konsum im Inland flexibel auf vermehrten Export ins Ausland reagiert und so die Anzahl der geschlachteten Tiere trotz geringeren (inländischen) Konsums tendenziell eher steigt als fällt. Amir sieht im veganen Konsum vor allem das sinnvolle Moment, mit vermeintlich feststehenden gesellschaftlichen Normen zu brechen und Raum zu schaffen, in dem Konsumformen, die zwingend auf der Ausübung von Gewalt beruhen, kritisch hinterfragt werden können.

Im Rahmen unseres Lesekreises entschieden wir uns, das Kapitel „Die schweinische Multitude – New York/Paris/London“ (Kapitel 3) zu lesen und zu diskutieren. Dort beschreibt Amir die sogenannten „Hog Riots“ (= Schweinekrawalle) und wie es zu ihnen kam. Im sich rasch wandelnden New York des beginnenden 19. Jahrhunderts rückten zuvor räumlich voneinander getrennte Stadtteile in unmittelbare Nähe. Für die damalige Arbeiter*innenklasse war das Halten von Schweinen eine wichtige Möglichkeit zur eigenen finanziellen Unterstützung. Sie ließen ihre Schweine tagsüber durch die Straßen der Stadt laufen und diese sorgten, da sie sich von Abfall ernährten, dafür, dass die Stadt auch in den ärmeren Vierteln erheblich sauberer war, als sie es ohne die Anwesenheit der Schweine gewesen wäre. Die Bewohner*innen der wohlhabenderen Stadtteile fühlten sich aber in zunehmendem Maße durch diese Schweine gestört und versuchten zunächst erfolglos über Petitionen der Lage Herr zu werden. Später unternahm der Bürgermeister der Stadt Bemühungen, die frei herumlaufenden Schweine einzufangen und sie in den Armenhäusern zu verfüttern. Damit versuchte er den Krieg gegen die Schweine, der eben auch ein Krieg gegen die Armen war, zu rechtfertigen, indem er den Allerärmsten Unterstützung in Form von Nahrung gab. Doch die Schweine, die Schweinehalter und deren Nachbarn wehrten sich mit allen militanten Mitteln gegen dieses Einfangen bzw. Eingefangen werden. Immer wieder konnten sie verhindern, dass die Schweinefänger Beute machten. Dabei schreckten sie auch nicht vor den Polizisten zurück, welche diese zu deren Schutz begleiteten. Diese Krawalle gingen als die „Hog Riots“ in die Geschichte ein. Erst einer Choleraepidemie, mit der die Schweine gar nichts zu tun hatten, und der damit verbundenen Angst vor der Seuche, machte ein erfolgreiches Vorgehen der Einsatzkräfte gegen die sich in der Stadt bewegenden Schweine möglich.

Bereits zuvor hatte Edmund Burke, britischer Wegbereiter des Konservatismus anlässlich der Französischen Revolution geschrieben, der Pöbel würde die Errungenschaften der Zivilisation unter den Hufen einer Schweinischen Multitude zertrampeln lassen. Auch die teils tumultartigen Zustände auf dem Londoner Smithfield Market, an denen menschliche wie nicht-menschliche Tiere beteiligt waren, werden damit in Verbindung gebracht.

Die Schweinische Multitude, auf die sich radikale und revolutionäre Kräfte daraufhin immer wieder berufen sollten, stellt Amir in Verbindung mit den Denkansätzen des Postoperaismus, jener Strömung, welche den operaistischen Ansatz mit Elementen des französischen Poststrukturalismus zu verbinden suchte. Antonio Negri und Michael Hardt stellten dem von ihnen im gleichnamigen Werk beschriebenen „Empire“ die „Multitude“ entegen, an der es liegt, wie sich das Empire konstituiert und wie es schließlich auch zu Fall gebracht werden kann.

Nach dem Studium des Textes diskutierten wir über folgende Punkte:

  • Ohne Frage wurden die als Widerständler zusammen mit ihren Besitzern (von Rechts wegen) agierenden Schweine schlussendlich von ihren ehemaligen Kampfgenoss*innen geschlachtet und gegessen oder verkauft. Daraus ergibt sich eine bzgl. der gegenseitigen Solidarität eine fragwürdige und paradoxe Situation.
  • Inwieweit existiert die „Schweinische Multitude“ heute noch, da sie ja zumindest aus dem Stadtbild komplett verschwunden ist? Zumindest trifft nach wie vor zu, dass die bürgerliche Ordnung die Schweine (als Nahrung) – rein formal – benötigt, die Schlachtung und Verarbeitung der Schweine aber von zutiefst prekär lebenden Menschen ausführen lässt und diese Vorgänge lieber hinter hohen Mauern zu verbergen sucht.
  • Das Bild des Schweins in der Öffentlichkeit scheint sich massiv gewandelt zu haben. War es einst Symbol des Wohlstands, so werden heute damit – allein schon sprachlich –Unsauberkeit, Dummheit, Dreistigkeit, Verrohung und etliche andere als negativ empfundene Eigenschaften verbunden.
  • Wir stellten uns die Frage, ob Mitleid – oder ggf. besser Empathie – überhaupt so rigoros abzulehnen ist und ob diese Aspekte nicht auch notwendige Motivation für gesellschaftliche Veränderungen sind.

Rezensionen zum Buch:

»Amirs Buch riecht nach männlichem Kampf, nach erhobenen Händen und Pfoten, nicht aber nach dem weiblich-verweichlichten Mitleid, das es so akribisch umgeht. In einer zunehmend kalten und oberflächlichen Welt kommt das gut an – jede Stammtischdiskussion mit Fleischessern endet damit, dass ebendiese mit der empathischen Immunität der eigenen Geschmacksnerven prahlen. Die Tendenz zahlreicher Philosoph*innen und Tierrechtsaktivist*innen, diesem Habitus ebenfalls zu verfallen, um noch ernst genommen zu werden, scheint auch hier am Werk zu sein.«
Rezension auf literaturkritik.de

»Nicht moralische Überlegenheit und konsumistische Reformen sollten nach Amir das Ziel des Veganismus sein, sondern ein Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse. Solidarisch mit widerständigen Tieren.«
Rezension auf Tier im Fokus

»Man [wird] dem spezifischen Handeln der Tiere nicht gerecht, wenn man ihr Verhalten als Widerstand klassifiziert. Der Selbstmord von Sauen infolge der Trennung von ihren Ferkeln ist keine Form des Widerstands. […] Die kapillaren Formen der Weigerung, des Entzugs, der Nichtkooperation, der Gewalt und so weiter sind etwas anderes als eine kollektiv und bewusst organisierte Praxis, mit der Ausbeutung und Unterdrückung gezielt begegnet wird, auch wenn diese die genannten Mikroformen annehmen kann.«
Rezension auf kritisch-lesen

»In Summe ist Fahim Amris Buch „Schwein und Zeit“ ein Gewinn. Es ist unterhaltsam zu lesen, gräbt vergessene Themen aus und zeigt auf, wie progressive Theorie über Tiere aussehen könnte. Zwar stolpert man bei genauer Lektüre über manche Ungenauigkeiten, die der verspielten Schreibe zuzuschreiben sind. Dem Grundbestreben des Buches kann man aber nur zustimmen: „Die tierethisch vorherrschende Frage ‚Können sie leiden?‘ weicht hier einem anderen Interesse: Wo und wie leisteten Tiere Widerstand und wo gab und gibt es Kampfgefährt_innenschaften zwischen Menschen und Tieren? Daraus kann Solidarität entstehen statt bloß paternalistischem Mitleid.“«
Rezension aus der TIERBEFREIUNG #102

»“Schwein und Zeit“ berührt bei aller schon im Buchtitel signalisierten Lockerheit des Diskurses und Leichtigkeit des Springens von einem Sujet zum anderen einige sehr empfindliche Punkte im heiß diskutierten Verhältnis zwischen Menschen und Tieren. Vegetarismus und Veganismusstehen dabei nicht im Mittelpunkt, werden aber als Möglichkeiten sozialrevolutionärer Wirklichkeitsbemächtigung gewürdigt. Die „utopischen Kräfte von Veg* liegen in der Störung des Normalzustandes, nicht in ihrer Normalisierung in Form von Veggieburger-Ketten. Veg* zu leben bedeutet, materiell und symbolisch mit den herrschenden Kräften zu brechen.“»
Rezension auf Schattenblick

Beitragsbild: Iva Rajović on Unsplash

 

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